Matt Haig: Mach mal halblang

Sind Sie schon durchgedreht oder arbeiten Sie noch daran?
Wir leben in einem Zeitalter der Ängste und der überdrehten Schnelligkeit. Man könnte meinen, unsere gesamte Lebensweise wäre darauf ausgerichtet, uns ins Unglück zu stürzen. Der Life-Overload hat uns fest im Griff. Aber: Können wir etwas dagegen tun? Matt Haig beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie die lärmende Außenwelt unser Denken beherrscht und wie wir uns zur Wehr setzen können. Es geht um große und kleine Dinge, um Weltpolitik, Gesundheit, Smartphones, Social Media, Sucht, Vernetzung. Ein Buch, das uns alle angeht und das uns unserer eigentlichen Aufgabe wieder ein wenig näherbringt: dem Menschsein.  (Verlagsinfo)

Inhaltlich kann ich mich dieser Rezension anschließen. Auch wenn das Buch mir wenig neue Erkenntnisse gebracht hat, aber es erinnert doch an das, was ich weiß, was mir aber auch immer wieder entgleitet. Matt Haig spannt einen weiten Bogen von Reizüberflutung durch Internet und soziale Medien, über zu wenig Schlaf aus Angst, was zu verpassen, nichts zu leisten und von Veränderungen in der Arbeitswelt (die sich ja durch Corona in manchen Bereichen nochmal rasasnt verändert hat) und einer falsch gelagerten Selbstwahrnehmung durch ewige Vergleiche mit anderen.

Ich weiß, momentan boomen die Bücher zu dem Thema: Stressabbau, Schnelllebigkeit, Achtsamkeit und mehr Besinnung auf „weniger Konsum“ und „mehr leben“ – aber ich lese nichts darüber, weil mir vieles davon einfach schon klar ist. Da ich von dem Autor aber schon einige tolle Bücher gelesen habe war ich neugierig, was er dazu zu sagen hat. Es gab nichts wirklich neues für mich und durch den Rundumschlag an Themen hat er vieles nur angekratzt. Genau richtig für diejenigen, die sich vor Augen führen möchten, wo es in ihrem Leben haken könnte.

Weltenwanderer, Link siehe oben

Seine eigene Betroffenheit macht die doch gelegentlich banal wirkende Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen dennoch lesenswert. Ich selber kenne Depressionen und auch Angststörungen, wobei die bei mir wohl weniger auf die lärmende Welt als mehr auf ein unsortiertes und unaufgearbeitetes Innenleben zurückzuführen waren, das ich nur mittels langer und sehr intensiver Therapie bewältigen konnte. Und in dem Zusammenhang habe ich auch viele untaugliche Glaubenssätze in die Wüste geschickt (Glaubenssätze sind tiefe Überzeugungen. Sie wirken fast ausnahmslos in einem inneren Dialog, der unbewusst abläuft. Die Überzeugungen werden nicht hinterfragt. In der Regel handelt es sich um erlernte Sätze, die von Eltern, Respektspersonen, Vorbildern und anderen Erziehungspersonen weitergegeben werden)

Ich mag den Schreibstil von Matt Haig und das ist nun das zweite Buch, das ich von ihm gelesen habe. Die Themen sind nicht seicht, aber er verpackt sie auch nicht so schwer, dass einem fast die Luft wegbleibt.

„Aber das Lernen als etwas zu betrachten, das keinen eigenen Wert hat, sondern in erster Linie etwas einbringen soll, macht das Wunder des Menschseins so klein. Dabei sind wir denkende, fühlende, wissenshungrige, kunstschaffende wundervolle Geschöpfe, die sich selbst und die Welt durch den Akt des Lernens begreifen. Das Lernen hat einen eigenen Wert für uns. Es bringt viel mehr als die Pluspunkte für den Bewerbungsbogen. Lernen ist einer der Wege, das Leben im Moment zu lieben.“

Aus dem Buch

Ich bin kein Fan von Psycho-Ratgebern, obwohl ich etliche von ihnen gelesen habe und mir mancher auch tatsächlich was gebracht hat, aber die Zeiten sind vorbei. Ich bin auch kein Fan von esoterischen Lebensberatern oder was es sonst noch so an Psycho-Literatur gibt. Das alles hat das Buch nicht. Es geht auch nicht darum, auf alles zu verzichten, sich nur noch mit seiner Seele zu beschäftigen. Aber manchmal ist es eben hilfreich, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und auch, ob man bei allem mitmachen will, was die Gesellschaft so von einem fordert oder was gerade Mode ist. Und manchmal habe ich auch sehr gelacht. Wusstet Ihr, dass es eine Mode gibt, die sich anal bleaching nennt? Okay, da ist es dann einfach, einfach mal nicht mitzumachen. Bei anderem ist es schon schwieriger, weil keiner von uns frei ist von gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen.

Für Menschen, die sich schon mit sich selber auseinandergesetzt haben und vielleicht schon die ein oder andere Baustelle im Leben beackert haben, beackern mussten, sicherlich nicht viel Neues, aber bekanntes auffrischen ist ja auch manchmal nicht verkehrt. Matt Haig beschreibt selbst, dass er oft zurückfällt in Verhaltensweisen, von denen er weiß, das sie ihm nicht gut tun und das kennen wir vermutlich alle auch. Da hilft es vielleicht, sich dessen auch immer wieder mal bewusst zu werden. Da er selbst betroffen ist, liest sich sein Buch nicht von oben herab, weniger wie ein Ratgeber, als einfach ein Buch, das einem wieder Impulse gibt. Umgang mit der Technik, mit social media ist ein dickes Thema, aber auch wie gehen wir mit den Erwartungen um, die die Gesellschaft an uns stellt, bzw. von denen wir denken, dass sie an uns gerichtet sind.

„Was Du bist, ist genug“

„Der einzige Fleck im Universum, den du mit Sicherheit verbessern kannst, bist du selbst.“ Aldous Huxley

„Niemand kann dich ohne deine Zustimmung klein machen“ Eleonor Roosevelt

Ich kann das Buch unbedingt empfehlen und habe es gerne gelesen.

Als nächstes stehen bei mir Ahmet Altan und Julie Zeh auf der Liste. Das Wetter ist ja gerade dazu angetan, es sich mit einem Buch zu vergnügen.

6 Anmerkungen zu “Matt Haig: Mach mal halblang

  1. Was mich ja wirklich mal interessieren würde, wie wir aus dieser sich aufschaukelnden Spirale von (gefühlten) Erwartungen, deren Erfüllung und damit verbundenen Höhersetzen von Erwartungen herauskommen. Irgendwie geht es gar nicht um den Menschen, um das Wohl des Menschen, sondern immer nur darum besser und besser zu werden und schneller und perfekter zu funktionieren. Aber Aussteigen würde doch bedeuten, aus der Gesellschaft auszusteigen. Das ist doch tödlich, oder? In kleinen Diesen vielleicht, aber so komplett und rundum?

    1. Ich denke schon, dass man ein Stück weit aussteigen kann. Das muss nicht heißen, aus der Gesellschaft auszusteigen, vielleicht aber, die Gesellschaft meiden, die einem nicht gut tut. Vielleicht muss man gar nicht komplett aussteigen, nur an manchen Stellen Stopp sagen und nicht mehr mitmachen. An mir prallt inzwischen auch so einiges ab, ich muss nicht alles mitmachen und ich muss schon gar nicht irgendwelche Erwartungen an mich erfüllen. Das, was mir wichtig ist, habe ich. Nicht, das ich nicht auch manchen Verlockungen erliege und dann feststelle, dass ich vieles gar nicht brauche, aber ich muss nicht allem hinterherhecheln und immer von allem das Neueste haben. Beruflich bin angekommen, das ist mir wichtiger, als irgendwelche Karriereleitern hochzuklettern. Da wird sich bei mir vermutlich nicht mehr viel tun, aber so what. Ich finde meine Arbeit sinnvoll, sie macht oft auch Spaß und ich kann davon leben. Ich denke, es geht darum, sich klar zu machen, was will ich selber und was wollen andere von mir. Das, was andere wollen, kann ich auch gut und gerne mal ignorieren. Aber dafür muss man sicherlich auch gefestigt sein, um bei sich bleiben zu können. Manchmal ist es ja auch fast bequemer, sich nach anderen zu richten, als sich mit sich selber auseinanderzusetzen.
      Schwierig wird es natürlich besonders, wenn man mit gesellschaftlichen Vorurteilen zu kämpfen hat, sei es mit Depressionen oder weil man HartzIV bezieht, aus welchen Gründen auch immer. So gesehen, falle ich ja zumindest aktuell nicht zu sehr aus gesellschaftlichen Normen. Das war aber auch mal anders. Und letztlich habe ich gerade dadurch, dass es mal anders war, viel gelernt, wie Matt Haig auch. Aber man muss sicherlich nicht durch dicke Krisen gehen, um zu sich selber zu finden. Mir hat es geholfen, aber ganz freiwillig war das nicht. Ich hätte nur vermutlich nicht überlebt, hätte ich mich nicht gestellt.
      In dem Buch geht es auch darum, mal auszusteigen, nicht komplett, aber seine Grenzen kennenzulernen, zu benennen und Stopp zu sagen.
      Der Satz von Eleonor Roosevelt trifft es für mich ganz gut…. es liegt immer auch an uns, was wir mit uns machen lassen.
      Ich habe gerade das Buch von Julie Zeh angefangen, in dem die Protagonistin aussteigt, auf’s Land zieht, sich der stressigen (Schein) Welt der Werbung entzieht, in der sie gearbeitet hat. Das muss es ja gar nicht sein (wird in diesem Fall auch schwierig weil sie feststellen muss, das ihr neuer Nachbar ein Nazi ist), wir müssen nicht alle Eremiten werden, aber wir können doch nach unseren Werten leben.
      Doch ich glaube schon, dass wir uns entziehen können, ohne das wir ins gesellschaftliche Aus geraten. Es ist vielleicht dann nur eine andere Gesellschaft und das muss ja nicht schlecht sein.

  2. Ja, ein stückweit „aussteigen“ – das ist auch das, was ich versuche. Damit ecke ich zwar auch immer wieder an oder Leute verstehen nicht, warum ich gewisse Dinge nicht oder anders mache. Aber wenn man beharrlich dabei bleibt, gewöhnen sich die Leute auch dran. Und ich habe durchaus den Eindruck, dass es manche durchaus auch als positiv auffassen.
    Klaro, immer ist mir das nicht gelungen. Ich spüre aber, dass es besser wird. Wirklich krass angefangen hat es letztes Jahr mit Corona, als wir alles auf online umgestellt haben. Ich habe mich da nicht dem Mainstream gebeugt und habe eine andere Art der online-Umsetzung verfolgt. Anfangs habe ich das lieber nicht an die große Glocke gehängt. Jetzt stehe ich schon mehr dazu.
    Jobmäßig fühle ich mich auch gesettet in einem Job, der überwiegend Spaß macht und bei dem ich in letzter Zeit immer mehr aus meiner Sicht sinnvolle Elemente ergänzen konnte.
    Und ja, auch mir hat die jahrelange Therapie geholfen. Lebensretter war wohl aber die Geburt meines Sohnes. Diese Verantwortung hält einen dann doch von so mancher Unsinnigkeit ab.
    Und was vielleicht auch ein wenig hoffungsstimmend sein könnte ist, dass sich sicherlich auch etwas ändern wird, wenn mehr und mehr Menschen wenigstens stückweise aussteigen. Ja, es wäre dann eine andere Gesellschaft.

    1. Wir sollten uns vielleicht weniger davon treiben lassen, was andere meinen und denken. Was sollen denn die Leute sagen…… lass sie reden :-) Gut, ich bin da entsprechend sozialisiert. Meine Mutter war immer sehr emanzipiert, alleinerziehend, 68er mehr oder weniger. Das hat mich natürlich geprägt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich belächelt wurde, als mein Bio-Fimmel anfing. Müsli-Fresser, Jesuslatschenträger…. aber mir war das egal. Und heute? Gehört es zum guten Ton, im Bioladen einzukaufen. Und ich suche wieder neue Nischen, weil diese Art von Bio nicht mehr meins ist. Ich kleide mich anders als andere und falle damit unweigerlich auf (was gar nicht meine Absicht ist, aber ich mag weder Jeans noch Kostüm…) Mich hat es noch nie groß gejuckt, was andere denken, aber je älter ich werde, desto noch weniger wichtig ist mir das. Und man findet immer Menschen, die zu einem passen.
      Ich habe geheiratet als alle anderen schon das erste Mal wieder geschieden waren, ich habe keine Kinder (wofür ich heute noch mitleidige Blicke ernte, als ob Mutterschaft das einzige wäre, was ein Frauenleben vollkommen macht), ich habe Jura studiert und dann was ganz anderes gemacht (gut, das war nicht freiwillig, sondern meiner Krankheit geschuldet). Mein Leben hat soviel Zick-Zack-Kurven, ich passe irgendwie in kein Schema, nicht mal in das der mir mal diagnostizierten Krankheiten :-)

  3. Ich setze mich immer wieder damit auseinander, was es bedeutet, bei mir angekommen zu sein. Auch ich musste mich ins Leben zurück kämpfen. Leider finde ich mich oft in irgendwelchen Sachzwängen wieder, die existentiell sind.
    Klar bin ich in den Gewohnheiten, die mir helfen einen guten Fußabdruck zu hinterlassen. Und es war Ghandi, der sagte, dass man uns die Würde nicht nehmen kann, wenn wir nicht bereit sind sie abzugeben.
    Der Titel: Sind Sie schon durchgedreht oder arbeiten Sie noch daran – ist mir schon einmal begegnet. Damit können viele Themen eröffnet werden. Entsprechen hat er mich bereits beschäftigt.

    1. Ich habe mich mit einigen der Themen auch schon intensiv beschäftigt, allerdings gab es damals, als ich mit der Therapie anfing, noch keine Handys, keine Smartphones, man war nicht immer und überall erreichbar. Es gab kein Facebook und ich hatte keinen Blog. Das alles hat ja doch vieles verändert und damit befasst sich Matt Haig schon relativ intensiv.
      In dem Buch geht es weniger um den Fußabdruck, den wir hinterlassen als um unser seelisches Gleichgewicht.

Leider keine Anmerkung mehr möglich.