Juli Zeh Über Menschen

Als ich das Buch gestern angefangen habe, dachte ich, na mal sehen, ob ich die 413 Seiten noch im Urlaub schaffe. Gerade eben habe ich das Buch quasi zugeklappt… ich habe es in einem Rutsch durchgelesen. Ein Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte.

Klug ausgearbeitete Spannung zwischen Provinz und Großstadt

„Über Menschen“ ist das Buch der Stunde gerade zu Corona-Zeiten, wo sich so vieles klärt und beschleunigt, samt Abstürzen, Einsamkeit, heilsgewissen Hassausbrüchen. Dazu noch die Fremdheit zwischen Provinz und Großstadt, nachdenklich ausgebreitet, klug, aber auch komisch und ausgesprochen süffig zu lesen.

Es gibt sogar eine Moral, als Dora schließlich merkt:“Es geht nicht darum, wer was verdient hat. Nicht einmal darum, für oder gegen Nazis zu sein. Das Zauberwort heißt ‚trotzdem‘. Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein. Trotz allem liegt da drüben ein Mensch.“

WDR3

Clash of Civilizations

Es treten unter anderem auf: ein das Horst-Wessel-Lied grölende »Dorf-Nazi«, der wegen versuchten Totschlags einsaß, aber selbst von einem Hirntumor mit erheblicher Raumforderung bedroht wird. Ein homosexueller Blumenhändler, der mit einem linken Kabarettisten vom Niederrhein zusammenlebt. Eine alleinerziehende Mutter, die Nachtschichten in einer Gießerei schiebt, um tagsüber ihre Kinder betreuen zu können. Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Und es bekräftigt Dora in ihrem Bedürfnis, sich nicht festzulegen. Eine elementare Einsicht versteckt sich mitten im Roman: »In Bracken ist man unter Leuten, da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben.«Stringent und geradeheraus erzählt Juli Zeh von den Fallstricken des Landlebens und den Trugschlüssen der Gutmenschen vor einer pandemieverunsicherten Gegenwart, die alle vermeintlichen Erkenntnisse infrage stellt.

Kein einziges Kapitel, kein einziger Satz des über 400-Seiten-Romans langweilt. Die Lektüre ist ein aufschlussreiches, anregendes, unterhaltsames Vergnügen für diesen zweiten Corona-Frühling – falls man nicht gerade mit dem Setzen von Saatkartoffeln beschäftigt ist.

Titel-Kulturmagazin

Ein Buch, das uns die Augen öffnet für unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit – eine Empfehlung! Denis Scheck

An manchen Stellen muss ich zwar dem Verriss im Tagesspiegel zustimmen, aber ich finde das Buch dennoch lesenswert. An manchen Stellen ist es mir auch zu seicht, was ich aber nicht so schlimm finde, zumal man sich ja auch eigene Gedanken machen kann. So ein bisschen kann ich manches nachempfinden, da ich ja auch teilweise auf dem Land groß geworden bin und mich noch gut erinnern kann, wie wir beäugt wurden, als Städter in einem Dorf in Nordfriesland, ohne Gardinen an den Fenstern und nie beim sonntäglichen Kirchgang zu sehen. Vom verwilderten Garten ganz zu schweigen. Nur den Dorfnazi gab es nicht, jedenfalls erinnere ich das nicht.

Aber die Auseinandersetzung mit verschiedenen Lebenswelten ist nicht nur ein Stadt-Land-Thema.

Corona ist nicht das Hauptthema des Buches, aber sie kommen mehr oder weniger alle vor… die Apokalyptiker und die, die Corona für harmlos halten. Bye the way, letzteren würde ich gerne eine Reihe im RBB empfehlen. Eine vierteilige, wie ich finde, sehr einfühlsame, Dokumentation über eine Covid-Intensivstation der Charité. Ich habe noch nicht alle vier Teile gesehen, aber was ich gesehen habe, hat mich sehr berührt. Weder reißerisch noch voyeuristisch.

Und bevor ich mir überlege, was ich als nächstes lese (noch ein Buch von Juli Zeh oder doch endlich mal Achmet Altan), freue ich mich auf ein Abendessen vom Vietnamesen, dass der Gatte gerade für mich jagt :-)

6 Anmerkungen zu “Juli Zeh Über Menschen

  1. Also ich werde das Buch sicher auch noch lesen – zumal ich durchaus ein Fan von Juli Zeh bin.
    Insofern gebe ich wenig auf irgendwelche Rezensionen – schon gar nicht, wenn sie vom Tagesspiegel kommen.

    Was die angesprochene Dokumentation angeht, so werde ich mir die wohl nicht ansehen – denn irgendwie ist das gerade so gar kein Thema für mich. Das gäbe wohl momentan zu viel Kopfkino mit unguter Tendenz.

    1. Ich finde das Buch auch lesenswert… sicherlich ein bisschen „süffig“, aber es muss ja nicht immer vor Schwere triefen, wenn es um ein ernsthaftes Thema geht

  2. Danke für die ausführliche Vorstellung des neuen Buches von Juli Zeh. Das steht auch auf meiner zu-lesen-Liste. Wenn die Bibliotheken wieder auf sind…
    „Corpus delicti“ hast Du sicherlich schon gelesen. Ansonsten wäre das auch recht empfehlenswert.
    Macht Euch ein schönes Wochenende. Und ich hoffe, dass Du dann gut gestärkt in die neue Woche und das wieder-Arbeiten starten kannst.

    1. Du wirst lachen, Corpus delicti habe ich gestern angefangen :-)
      Wirklich gestärkt fühle ich mich nicht. Erholsamer Urlaub geht irgendwie anders und ich finde es auch immer noch undefinierbar, dass ich Montag nun nicht ins Büro, sondern wieder an unseren Esstisch gehe… vielleicht ist es das. Die Trennung von Arbeit und Job ist einfach total aufgeweicht. Aber wenigstens habe ich den Dienstlaptop nicht einmal aufgeklappt

      1. Ja, vermutlich ist das ein Aspekt, dass wir das mit der Trennung nicht so gut hinkriegen. Und vermutlich ist das umso schwieriger je beengter es zu Hause ist. Aber nix für die Arbeit gemacht zu haben, ist ja ein Anfang. Mit besserem Wetter wäre es bestimmt auch einfacher gewesen.

        1. Wir wohnen nicht beengt, aber die Wohnung ist halt nicht darauf ausgerichtet, dass einer Zuhause arbeitet. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie das gehen sollte, wenn hier auch noch home schooling stattfinden müßte…
          Corpus delicti habe ich wieder beiseite gelegt. Ich versuche es jetzt mal mit Unterleuten.

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