Ein Privileg aussprechen müssen: Unser Leben geht weiter, während es das für andere nicht tut.

Diesen Satz habe ich gestern in einem Artikel einer russisch-jüdischen Schriftstellerin gelesen: Wortlos und schreiend

Ach ja, dieser Aktionismus, der versucht, die Hilflosigkeit, das Nicht-Verstehen zu überdecken. Kapiere es doch, Kopf, du siehst doch die Bilder, aber der Kopf verarbeitet die Bilder zu langsam, kommt den rollenden Panzern nicht hinterher, den mit Koffern an der Hand und Kinder hinter sich her ziehenden Menschen.

Geld gespendet, Plakate für die Ukraine-Solidaritäts-Kundgebung gebastelt, allen geschrieben, die der Krieg trifft, auf der Kundgebung gewesen, sich bei Portalen angemeldet, die Hilfe für Flüchtende organisieren, dann ist immer noch so viel Tag, so viel Nacht übrig, in der man tatenlos zusieht.

Lena Gorelik s.o

Das Leben hier geht weiter. Mehr oder weniger wie immer. Kaum jemand hat vermutlich Kontakt zu Menschen, die hier nun Zuflucht suchen und abgesehen von immer höheren Preisen für Energie und auch Lebensmittel hat dieser Krieg (noch?) keine weiteren Auswirkungen auf unser aller Leben. Auch wenn bei manchen sicherlich neben dem Entsetzen auch Angst mitschwingt. Die habe ich auch, das gebe ich zu. Davor, dass ein Atomkraftwerk hochgeht, absichtlich oder als „Kollateralschaden“. Gerade lese ich im Spiegel, dass Tschernobyl ohne Strom ist und das könnte Folgen haben:

Vor Ort lagerten rund 20.000 Brennelemente. Sie müssten ständig gekühlt werden. Das ist jedoch nur möglich, wenn es Strom gibt. Ohne eine Anbindung ans Stromnetz könnten die Pumpen nicht dauerhaft kühlen. In der Folge steige die Temperatur in den Lagerbecken an, es komme zu einer Verdunstung – und zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Luft.

Spiegel.de

Davor, dass die Eskalation weiter geht und weiter den Frieden in Europa bedroht. Aber das alleine ist es nicht. Wie schon viele geschrieben haben, geht es auch mir so, dass ich mit meinen bisherigen Überzeugungen ins Wanken gerate, dass ich mich verloren fühle in meinem eigenen Standpunkt, in meiner politischen Ausrichtung.

Insofern war mein Kommentar hier vor ein paar Tagen, ich hätte eine klare Meinung zu dem Krieg, etwas sehr schnellschüssig. Ich habe eine klare Meinung zu Putin, aber ansonsten gerät gerade einiges ins Wanken. Zeitenwende-auch für Pazifisten hat es ein Mitblogger genannt und es damit auf den Kopf getroffen. Selbstverständlich war ich bisher gegen jede Aufrüstung, auch gegen die Erhöhung der Militärausgaben hier bei uns. Nur was soll eine Bundeswehr, die nicht mal warme Unterbuxen hat, schon ausrichten. Gut, soll sie überhaupt was ausrichten können, könnte man auch fragen. Und das Geld, das man jetzt in die Hand nimmt, reicht vermutlich nicht, um all die Versäumnisse mal eben aufzuholen. Auf mich wirkt es ein bisschen wie ein hektischer Schnellschuss, weil man jetzt unter Druck ist. Und diese Schnellschüsse sind nicht immer die besten. Corona hat es gezeigt.

Trotzdem sähe ich das Geld deutlich lieber in Bildung und anderem investiert. Das halte ich auch langfristig für sinnvoller investiert. Trotzdem bleibt die Frage, wie geht man gegen Aggressoren wie Putin vor? Mit Wattebäuschchen lässt sich der nicht stoppen. Auch nicht mit weltweiten Demos, Solidaritätsbekundungen und anscheinend nicht mal mit Sanktionen, die das Land hart treffen.

Und wenn ich nach Afghanistan gucke, dann sind eben Waffen auch nicht die Lösung. Wie viele Armeen haben sich dort abgearbeitet? Und sind gescheitert….

Und da hier die konsequente Energiewende verpennt worden ist, wird weiterhin Gas und Öl aus Russland gekauft und auch damit der Krieg finanziert. Vielleicht setzt jetzt wenigstens ein Umdenken ein, nicht nur in Bezug auf Energie.

Jetzt droht Russland schon selber mit der Einstellung der Gaslieferungen über Nordstream 1. Besser wäre gewesen, wir hätten in den sauren Apfel gebissen und das selber gekündigt. Wasch mich, aber mach mich nicht nass, funktioniert nun mal nicht. Andererseits hätte das weitreichende Folgen auch für unsere Wirtschaft und nicht jeder kann über steigende Kosten für Verkehrs-und Lebensmittel und Energie einfach hinweglächeln.

Russlands Ölexporte spülen täglich rund 500 Millionen Dollar in Wladimir Putins Kriegskasse. Ein Embargo wäre moralisch richtig – und ökonomisch machbar. Warum es wohl dennoch nicht kommt.

Spiegel.de

Wie immer dieser Krieg auch ausgeht, er wird die Welt, unsere Welt, nachhaltig verändern. Die Selbstverständlichkeit des Friedens, in der wir Jahrzehnte gelebt haben, ist vorbei. Auch wenn Putin sich verkalkuliert hat, wenn er diesen Krieg nicht gewinnt, er hat bereits jetzt unendliches Leid verursacht. Und egal wie es ausgeht, die Welt, unsere Welt, wird danach eine andere sein. Selbst wenn wir hier halbwegs ungeschoren davon kommen, die Gefahr eines Krieges ist nie so real gewesen, jedenfalls nicht für Menschen wie mich, die das Glück hatten, ihr ganzes Leben im Frieden gelebt zu haben.

Angst hatten wir auch in den 80ern, als das atomare Wettrüsten ein großes Thema war. Und doch war es, jedenfalls bei mir, eher so, dass ich nicht wirklich damit gerechnet habe, das eine der beiden Großmächte Ernst macht. Die Angst war deutlich abstrakter, trotz Pershing II und Cruise missiles. Und trotzdem gingen z.B. am 22. Oktober 1983 400.000 Menschen alleine hier in Hamburg auf die Straße.

Ich erinnere mich noch gut an diese Demo.

Da war ich auch dabei. Von Hamburg mit dem Sonderzug in den Hunsrück. Aber ich will jetzt nicht in Erinnerungen „schwelgen“. Damals jedenfalls ist es gelungen, mehr Menschen vom Sofa zu holen und das ganz ohne breite Aufrufe via Facebook, Twitter und überhaupt ganz ohne Internet.

Mit Angst umzugehen, konnten wir ja ein bisschen üben. Auch Corona hat mir lange Angst gemacht, aber da konnte man wenigstens ein bisschen was auch selber in die Hand nehmen.

Und doch geht es mir ein bisschen wie dieser taz-Autorin:

Schon krank oder noch überfordert? Es ist längst zu viel geworden: Klimakrise, Pandemie, nun ein alles überschattender Krieg. Die Arbeit lenkt immerhin ab, nur: Wer weiß, ob das gut ist.

taz.de

Auch wenn ich nicht unter Depressionen leide. Manchmal fühlt es sich wie eine an und ich weiß da leider, wovon ich rede.

Das hängt seit vorgestern an unserem Bürogebäude. Es war auch das Motto des letzten Katholikentages in Münster. Dieses Banner wird Putin genauso wenig stoppen wie die zahlreichen Demos und anderen Solidaritätsbekundungen. Es sind alles „nur“ Zeichen unserer Wut, Ohnmacht und Angst und trotzdem finde ich sie wichtig. Weshalb ich auch am Sonntag wieder am Jungfernstieg sein werde, wenn zur nächsten Großdemo aufgerufen wird.

Vielleicht könnten wir uns auch mal gegen Kriege anderswo in der Welt etwas mehr engagieren. Als Assad anfing, Syrien in Schutt in Asche zu legen, gab es nicht ansatzweise soviel Empörung, den Krieg im Jemen mit all seinem unfassbaren Elend nehmen wir kaum wahr, genauso wenig wie die vielen anderen auf der Welt. Und Afghanistan haben wir auch vergessen.

Die Empörung (weil eben auch die Angst) ist immer dann am größten, wenn einer der sog. Großmächte beteiligt ist. Damals im Irak, heute Ukraine….

Und wie gehen wir mit Flüchtlingen um, die nicht aus Europa kommen? Lesbos, Türkei, Libyen usw.

Es wäre auch ein guter Zeitpunkt, mal genauer hinzugucken, welchem Despoten noch so der Allerwerteste gepudert wird, weil wir ihn für unsere Interessen brauchen.