*Annalena Baerbock
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
Ingeborg Bachmann, Alle Tage, 1952
Dieses Gedicht habe ich heute gelesen und es hat mich sehr berührt. Bei uns auf der Arbeit ist das, was da gerade in der Ukraine geschieht, das beherrschende Thema, aber vermutlich nicht nur bei uns. Trotzdem bin ich froh, dass wir hier miteinander darüber reden, Ängste und Sorgen aussprechen können.
Denn dieser Krieg ist so viel näher als alles, was bisher da war. Weniger wegen der räumlichen Nähe (da war Jugoslawien ja noch näher dran), sondern eher, weil hier ein Herr Putin mitten in Europa seinen Allmachtsphantasien frönt, offen mit dem Einsatz von Atomwaffen droht und es sein könnte, das auch andere europäische Länder betroffen werden könnten, wie z.B. die Länder im Baltikum.
Es ist gerade schwer, das beiseite zu schieben, was da passiert. Die Toten und Verletzten, die es bereits gibt und deren Zahl noch steigen wird. Jeder ist einer zu viel, einen sinnlosen Tod gestorben.
Ob sie wieder kommt, die Friedensbewegung? Ich glaube kaum, dass wir Kundgebungen wie in den 80ern erleben werden, als wir mit 100.000den auf den Straßen gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße gegangen sind. Ja, wir haben den Nato-Doppelbeschluss nicht verhindern können, aber alles ist besser ist als nix tun.
Frieden schaffen ohne Waffen, das war damals wie heute unser Traum. Wir hatten damals schon Angst vor der atomaren Bedrohung, heute wird sie plötzlich wieder sehr real.
Und es waren nicht nur die Russen, vor denen wir Angst hatten. Beide Supermächte hätten das Knöpfchen drücken können und Präsidenten wie Reagan, Bush und vor allem Trump haben mir da mindestens soviel Angst gemacht, wie Putin es jetzt tut.
Tja, lange genug haben wir seinem Treiben ja mehr oder weniger tatenlos zugesehen. Wie er immer mehr die Demokratie ausgehöhlt hat, wie Menschen inhaftiert und ermordet wurden. Wir hatten schließlich wirtschaftliche Interessen, nicht nur Nordstream 2.
Nun will er die Nato nicht vor der Tür haben. Verständlich, irgendwie. Andererseits grenzt die Ukraine an Polen, Ungarn, Rumänien und Slowenien, alles Nato-Staaten.
Ich glaube, dem Mann ist jedes noch so fadenscheinige Argument recht, um diesen Wahnsinn zu rechtfertigen. Und wirtschaftliche Sanktionen werden ihn kaum jucken. Einen Despoten hat es noch nie interessiert, ob sein Volk im Elend versinkt. Russland hat ja auch noch China. Die jetzt vielleicht mal ganz nebenbei Taiwan übernehmen, fällt gerade nicht so auf, wenn die ganze Welt in die Ukraine guckt.
Und wer jetzt meint, die Welt drischt nur auf Putin ein…. Putin hat den Krieg angefangen, sonst niemand. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Punkt.
Auch um Tschernobyl wird gekämpft:
Artilleriegeschosse haben die Anlagen schon getroffen. Falls es dort noch mehr Schäden gibt droht eine radioaktive Wolke, die ganz Europa erreichen könnte.
Ich habe eine Freundin aus Charkiw, die schon vor Jahren nach Polen geflohen ist und jetzt in Breslau lebt, wo wir sie auf unserer Polenreise besucht haben. Sie hat noch Freunde und Familie in der Ukraine. Ein anderer Freund hat enge Kontakte in die Ukraine und telefoniert mit Freunden:
Vorhin haben wir mit unseren Freunden in der Ukraine telefoniert. Kinder, Frauen und ältere Menschen beben vor Angst, die Männer sind bereits in Uniformen, um ihr Land zu verteidigen. Es ist ein sehr bedrückendes Gefühl hier zu sitzen und nichts tun zu können. So hilflos, und am Telefon direkt die Angst zu spüren.
Gerade eben bekomme ich eine Mail von Campact:
Gemeinsam mit Gewerkschaften, Kirchen, Umwelt- und Friedensorganisationen planen wir für Sonntag eine riesige Kundgebung am Brandenburger Tor in Berlin.
Ich war lange nicht in Berlin…. wer, wenn nicht die Menschen, können zeigen, dass wir keinen Krieg wollen. Nicht in der Ukraine und auch nicht anderswo. Und wir können auf die Straße gehen. In Russland gibt es tatsächlich auch Anti-Kriegs-Demos mit etlichen Verhaftungen.