Mal etwas unaufgeregter und sachlich

Ehrlich gesagt kotzt mich die Berichterstattung zu dem Unfall mit der Radfahrerin in Berlin so richtig an.

Um es vorweg zu nehmen, ich bin ich nicht unbedingt ein Fan dieser Form von Klimaprotest und vor allem glaube ich, dass die Klimaaktivisten weder sich noch dem so berechtigten Anliegen mit diesen Formen einen Dienst erweisen. Aber das ist ein anderes Thema. Was mich so ankotzt ist die mediale Schlachtung der Aktivisten, fernab jeglicher juristischer Sachlichkeit und sauberer Recherche. Und da das auch anderen auf den Senkel geht, gibt es dazu auch Beiträge, die den Sachverhalt sauber einordnen. Das will ich hier nicht alles nachplappern, weshalb ich auf einen Artikel von Heinrich Schmitz verlinke (wirklich lesenswert)

Auch wenn Heinrich Schmitz Rechtsanwalt ist, halte ich den Artikel auch für juristische Laien für gut verständlich geschrieben.

Wenn uns Menschenleben wirklich wichtig wären, würden wir anders diskutieren. Weil uns Menschenleben nicht wichtig sind, diskutieren wir so, wie wir diskutieren.

Einige Gedanken zum Tod einer Radfahrerin.

Im vergangenen Jahr wurden 2.562 Menschen im Straßenverkehr getötet. So wenige wie noch nie. Unpopuläre Maßnahmen wie Geschwindigkeitsgrenzen, Alkohol-Promillegrenzen und Eingriffe in Freiheitsrechte, wie beispielsweise die Gurtpflicht und die Helmpflicht, schützen Leben. Je mehr wir den Straßenverkehr regulieren, umso mehr Menschen werden gerettet. Dazu gehören Straßenverkehrsregeln, aber auch Infrastrukturausbau wie Fahrradwege und Pflichtausstattungen wie ESP in PKW und Abbiegeassistenten in LKW.

Wenn uns Menschenleben wichtig wären, würden wir darüber diskutieren. Würden wir viel mehr darüber diskutieren.

Dass Fahrradfahrerinnen beim Abbiegen durch LKW und Schwerlastfahrzeuge überrollt werden, ist weder neu noch selten. Über abbiegende LKW, tote Winkel und getötete Fahrradfahrerinnen sind zahlreiche Artikel erschienen. Ein Artikel in der ZEIT ist überschrieben mit „Einer nach dem anderen“.

Vekehrsverstöße gelten als Kavaliersdelikt. Geschwindigkeitsüberschreitungen haben keine kaum Konsequenzen zur Folge. In wirklich jedem Stau gibt es zahlreiche Autofahrer:innen, die keine Rettungsgasse bilden, die „gaffen“, die versuchen, sich hinter Rettungswagen und Polizeifahrzeug durchdrängeln, und mit dem eigenen Fahrzeug schneller durch den Stau zu mogeln.

Nun aber reden wir über „Verfassungsfeinde“, über „Terrorismus“ und „Grüne RAF“. Der Bundesjustizminister erwähnt Freiheitsstrafen und meint damit ganz explizit Klimaschutz-Aktivist:innen. Derselbe Bundesjustizminister hat noch nie mit Freiheitsstrafen gedroht, wenn Autofahrer Rettungswege und Feuerwehrzufahrten blockiert haben.

Man könnte meinen, für die Konservativen in diesem Land wäre der Hirntod einer Radfahrerin ein Gottesgeschenk. Es ist rundum ekelhaft, wie sich manche aktuell äußern. Mancher Politiker bemüht sich geradezu, dass man noch das letzte Quäntchen Respekt vor ihm verliert. Für manchen Chefredakteur ist nun endlich eingetreten, was er sich mutmaßlich erhofft hat. Ein Mensch ist tot. Im Zusammenhang mit Klimaschutzprotesten.

Über diese Proteste muss (!) zu reden sein. Über Verhältnismäßigkeit, Risikoabwägung, und ja, auch über gefährliche Eingriffe in Straßen- und Schienenverkehr. Wenn ein Protest gegen tödliche Umweltverschmutzung den Tod von Menschen inkauf nimmt, wird er selbst brandgefährlich.

Von Journalist:innen und auch Politiker:innen darf man aber erwarten, dass sie sich an die Wahrheit halten. Und dass sie die Schwerpunkte richtig setzen. Die Radfahrerin ist verunglückt, weil sie von einem Betonmischer (!) überrollt wurde. Mit einem Abbiegeassistenten, mit befestigten und sicheren Fahrradwegen wäre dies nicht geschehen. Die Kritik an den Protestierenden ist mehr als angebracht, aber Fakten und Sachlage dürfen einfach nicht unterschlagen werden.

Die Wahrheit zu unterschlagen ist unwürdig und unanständig. Die Wahrheit zu unterschlagen und „Social Media“-Kacheln mit Lügen zu veröffentlichen, ist nicht nur das. Es sollte ausreichen, um für jeden weiteren Diskurs bis in alle Zeit zu disqualifizieren.

Doppelmoral war immer schon fester Bestandteil aller politischen Auseinandersetzung. Das muss man annehmen und wahrnehmen. Dass nicht immer jeder Tweet und jede Äußerungen angemessen und würdevoll sind, auch. Ich selbst könnte dutzende eigene Beispiele nennen. Der nur mäßig verdeckte Jubel mancher Verantwortungsträger:innen hierzulande aber, hat mit politischer Auseinandersetzung und hartem Diskurs nichts mehr zu tun. Er ist ein Beispiel dafür, wie wenig Menschenleben in diesem Land zählen.

Ich bin traurig und erschüttert, dass die regelmäßigen Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und die rechte Hegemonie in manchen Teilen Deutschlands nicht einmal einen Bruchteil der Aufmerksamkeit und der Berichterstattung erhalten, wie der tragische Vorfall in Berlin. Wir könnten über eine neue Form von Terrorismus, über NSU 3.0 und Verfassungsfeindschaft diskutieren. Alle gemeinsam, rechts, links, liberal, progressiv und konservativ. Wir sollten Menschen, die andere Menschen anzünden gemeinsam ächten.

Darüber aber lässt sich keine Gemeinsamkeit herstellen.

Worüber wir nun diskutieren, ist der Tod einer Fahrradfahrerin. Nicht der Schutz von Fahrradfahrern wohlgemerkt. Nicht deren Verletzlichkeit im Straßenverkehr. Nicht die Prävention solcher Unfälle für die Zukunft. Dass ausgerechnet diejenigen, die den Automobilverkehr in den Zentrum ihres Freiheitsbegriffes stellen und damit eine sichere und nachhaltige Verkehrswende verhindern, nun eine tote Fahrradfahrerin instrumentalisieren, macht richtiggehend wütend.

Es ist, um es deutlich zu sagen, ekelerregend, wie sich hier manche verhalten. Mit Würde gegenüber den Toten, mit Respekt gegenüber den Lebenden und mit Anstand gegenüber dem politischen Gegner hat alledem nichts zu tun.

Aus politischer und medientheoretischer Perspektive lässt sich nüchtern feststellen: Diejenigen, die vor einer „grünen RAF“ warnen, sind diejenigen, die man meisten von ihr profitieren würden. Das kann man ja im Hinterkopf behalten, wenn man demnächst wieder manche Medienberichte liest und manchen Videobeitrag sieht.

Ein letztes Wort an die „Letzte Generation“ und weitere: Wenn Eure Protestform im Verdacht steht, Menschenleben zu gefährden, braucht Ihr neue Protestformen. Das ist ganz einfach. Darüber gibt es keine zwei Meinungen. Selbst der Verdacht einer Mitschuld sollte einen Denkprozess in Gang bringen und zu einer Umkehr der bisherigen Proteste beitragen. Sucht, ähnlich zu Streikenden, Formen, die unangenehm sind und Aufmerksamkeit erzeugen. So wie es gerade läuft, geht es nicht weiter.

Den Angehörigen der getöteten Fahrradfahrerin gilt mein Mitgefühl.

Stephan Anpalagan bei facebook

Der Tod der Radfahrerin ist tragisch, keine Frage. Trotzdem sollte man bei der Betrachtung der Ereignisse sachlich bleiben und den Tod dieser Frau nicht dafür instrumentalisieren, mal alles rauszuhauen, was man schon immer über die Klimaaktivisten auskübeln wollte.

Und wenn Herr Dobrindt von Klima-RAF spricht, dann kommt mir der Kaffee hoch. Ausgerechnet die, die es jahrzehntelang versemmelt haben, wider besseres Wissens, was gegen den Klimawandel zu tun, pöbeln jetzt aus allen Rohren.

Ich fahre jeden Morgen Slalom mit meinem Roller, weil hier alles zugeparkt ist. Da käme im Zweifel kein Feuerwehrwagen durch, ein Krankenwagen vielleicht so gerade noch. Täglich werden Rettungswagen blockiert, weil die Leute zu dämlich sind, Rettungsgassen zu bilden. Spricht da jemand von der Autofahrer-RAF? In Berlin ist ein zweiter Radfahrer zu Tode gekommen, das wird kaum erwähnt.

Und der fast reflexartige Schrei nach schärferen Gesetzen ist albern. Wir haben bereits Tatbestände wie Nötigung, Sachbeschädigung und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Auch mit schärferen Gesetzen kann man eine Kausalität nicht herstellen, die schlicht nicht gegeben ist.

Im Übrigen ist auch die Protestform des sog. zivilen Ungehorsams eine durchaus legitime Protestform in einer Demokratie. Wir haben in den 80ern auch Kreuzungen blockiert, um gegen das atomare Wettrüsten zu demonstrieren. Allerdings haben wir uns nicht festgeklebt.

Das angeforderte Spezialfahrzeug in Berlin wurde noch von der Notärztin wieder abbestellt. Und trotzdem feuern Schmierblätter wie die Blödzeitung derart gegen die Aktivisten, als hätten diese die Radfahrerin getötet. Haben sie nicht, auch nicht mittelbar. Und Dobrindt und Merz befeuern diese unsachliche Debatte noch zusätzlich. Aber das ist ja auch einfacher, als mal seine Versäumnisse in Sachen Klimaschutz der letzten Jahrzehnte einzugestehen.